In einem Land vor unserer Zeit: Die Steyrer Stadtveduten von 1548 bis 1786

von Sophie Morawitz

Abb. 1: Porträt von Coloman Dorninger und seiner Familie, 1548.

Anfang dieses Jahres erkannte der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Zdenek Vácha die Wappen eines Familienporträts auf der mährischen Burg Pernštejn (Abb. 1) als jene der Steyrer Familien Dorninger, Trodl und Oefferl. Die Datierung auf dem Tafelbild verweist auf dessen Entstehung im Jahr 1548. Dementsprechend ordnete er sie dem Steyrer Bürger Coloman Dorninger († 1552), seiner ersten Frau Martha Trodl und seiner nachfolgenden Gattin Anna Oefferl zu. Durch diese Zuschreibung entpuppte sich das Werk als rares Zeugnis genealogischer Forschung. Aufgrund der im Hintergrund wiedergegebenen Landschaft samt Stadt, ist es aber auch von großer kulturhistorischer Bedeutung. Gemeinsam analysierten wir die Stadtansicht und entwickelten eine Reihe von Thesen. Sie kulminierten in der Erkenntnis, dass es sich um die älteste bekannte Ansicht der Stadt Steyr handelt.

Alles im Blick

Abb. 2: Detailausschnitt mit Pfarrkirchensprengel.

Wir präsentierten unseren Befund im Amtsblatt der Stadt , in Interviews und Artikeln. Pressemeldungen von Lokalnachrichten und Beiträge im ORF Oberösterreich  sorgten zudem für eine rasche Verbreitung des sogenannten „Sensationsfundes“. Doch worin liegt die Sensation? Und warum spricht diese so viele Menschen in Steyr und außerhalb an?
Die Antwort darauf ist ebenso simpel wie einleuchtend: Die deklarierte Stadtansicht zeigt ein bisher unbekanntes Stück der eigenen Vergangenheit – sei es jene der Steyrer:innen, der Österreicher:innen oder der Europäer:innen – das schlagartig erfahrbar wird. Dabei zeigen die beiden Ausschnitte ein so detailliertes Bild der Stadt inklusive zahlreicher Landmarks, dass eine Verlebendigung des statischen Bildes begünstigt und das Eindringen in die vergangene Welt ermöglicht wird: Während rechts die mächtige Styraburg über der Steyrfluss-Brücke mit ihren markanten Stromschnellen thront, ist links die berühmte Stadtpfarrkirche St. Ägydius und Koloman mitsamt Pfarrhof und Margarethenkapelle zu erkennen (Abb. 2).
Das Bild wird also zum Fenster in eine uns vorangegangene, aber kulturell nahestehende Welt. Oder anders gesagt: Die darauf zu sehende Vedute – womit eine „[…] topografisch getreue Panoramaansicht einer Landschaft oder Ansiedlung […]“ gemeint ist – macht das Vergangene in der Gegenwart greifbar und suggeriert somit den Effekt von anhaltender Präsenz. Und zwar nicht nur in Bezug auf die festgehaltene Stadt, sondern auch die mittig platzierten Personen betreffend: Indem uns das Bild zwischen der Aufmerksamkeit für die städtischen Details und der Anteilnahme für Coloman Dorninger und seinen Angehörigen hin- und herspringen lässt, müssen auch sie als vergegenwärtigt begriffen werden.

Donatio et memoria

Abb. 3: Detailausschnitt mit blumenbedecktem Tisch.

Die rechts und links der Donatoren erscheinende Vedute ist somit für die memoria, sprich das rituelle Totengedächtnis, derselben von großer Bedeutung. Interessanterweise besitzt die Regionalgeschichtliche Sammlung der Lutherstadt Eisleben zwei gemalte Epitaphien, die ein vergleichbares Zusammenspiel aus Stadtvedute und Stifterfamilie zeigen wie das „Steyrer“ Exemplar. Beide Epitaphien, die nach ihren Stiftern Georg Feuerlein und Jacob Heidelberg benannt sind, werden in das Jahr 1563 datiert und präsentieren jeweils den Stifter und seine Familie vor einem ausgedehnten Panorama. Aber nicht sitzend und stehend – wie bei Dorninger und Co. –, sondern im Gebete kniend. Angesichts der in die städtische Umgebung verorteten Heilsszenerien inkl. Heiland, ist diese Haltung aber kaum verwunderlich. Immerhin war der in Andacht wiedergegebene Gläubige die gebräuchlichste Formel mittels welcher derselbe in einen christlichen Bildinhalt eingefügt wurde – denn nur so war er darstellungswürdig. Ikonografisch gesehen erscheinen in den Eislebener Tafelbildern also zwei Darstellungstypen – nämlich das Andachtsbild und die erzählende Historie – nebeneinander, wobei die Landschaftsvedute zur alles vereinenden Kulisse mutiert.
Von den charakteristischen Bibelszenen der Eislebener Bilder ist am Dorninger´schen Tafelbild aber nichts zu sehen. Vielmehr finden sich die Stifter:innen des Bildes um einen Tisch in einem paradiesisch anmutenden Garten ein. Wir alle wissen: Das Tor zum Paradies wurde durch Eva verschlossen, durch die Mutter Gottes aber wieder für alle geöffnet. Im christlichen Glauben ist der Paradiesgarten folglich nicht nur als Ursprung, sondern auch als Zukunft des Menschen zu verstehen. Von dieser Vorstellung ließe sich ableiten, dass uns das Bild einen Jenseitszustand vor Augen führt, welchen sich die zum Entstehungszeitpunkt noch lebenden Mitglieder der Familie Dorninger für sich und ihre bereits verstorbenen Kinder (jene rechts im Bild!) ersehnten. Himmlisch, nicht wahr? Und ja, mit der abgrenzenden Hecke und der symbolträchtigen Botanik ist der These eines endzeitlichen Privatgärtleins auch kaum etwas entgegenzusetzen: So sammelt der Nachwuchs eifrig rote und weiße Rosen, Nelken und verschiedenste Wiesenblumen (Abb. 3) – die in der visuellen Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit u.a. als Sinnbilder für die Passion Christi, die damit einhergehende Sterblichkeit des Körpers und Unsterblichkeit der Seele angesehen wurden – und platziert sie demonstrativ vor den Augen der Eltern auf der weißen Tischdecke. Zufall? Wohl kaum! Indem der Fluss Enns unmittelbar hinter der Rosenhecke erscheint, mutiert er letzten Endes sogar zur Trennlinie zwischen dem überirdischen Garten und der irdischen Stadt und verdeutlicht, dass die dargestellten Personen zwar mitten in der Welt sind, ihr aber nicht (mehr) angehören. Die Vedute ist somit auch auf dieser Ebene in vollem Einsatz – wenn auch auf ganz andere Weise als bei den Eislebener Beispielen!

Die Stadtvedute Steyers in der nachfolgenden Malerei und Druckgrafik

Abb. 4: Radierung von Hans Sebald Lautensack, 1554.

Die „Nachfolger“ der beschriebenen Stadtansicht von 1548 entstanden hingegen aus ganz anderen Intentionen. Bereits die 1554 datierte (spiegelverkehrte!) Radierung von Hans Sebald Lautensack (Abb. 4) bezeugt einen rein dokumentarischen Anspruch: Rechts eröffnet ein naturalistisch wiedergegebener Baum auf einer Anhöhe den Blick auf die Stadt mitsamt ihrer mittig platzierten Pfarrkirche, der links zu sehenden Styraburg und zahlreichen dazwischenliegenden Hausstrukturen; verdeutlicht uns aber auch, dass wir im Moment der Betrachtung selbst auf ebenjener Anhöhe stehen und mit eigenen Augen auf die Stadt hinunterblicken.

Abb. 5: Kupferstich von Johann Christian Leopold, um 1720.

In der europäischen Kunst tauchten derart authentische Darstellungen von Stadtarchitekturen ab der Frühen Neuzeit vermehrt auf und gipfelten in den zahlreichen Italienreise-Ansichten des 18. Jahrhunderts. Die einzigartigen Landmarks sind dabei stehts aufs kleinste Detail festgehalten und mit freiem Auge erkennbar, sofern man über ihr Aussehen Bescheid weiß. Kurz gesagt: Es ging mehr denn je um Wiedererkennbarkeit!

Auch die mittels verschiedenster Medien festgehaltenen Steyr-Veduten des 17. und 18. Jahrhunderts (u.a. Abb. 5 und 6; eine vollständige Auflistung findet sich bei Volker Lutz) wollen – in Übereinstimmung mit der frühen Lautensack-Radierung – weder als memoriales noch als künstlerisches Gemälde, sondern als Dokumente wahrgenommen werden. Rekonstruierbar ist über die einzelnen Originale nämlich nicht nur das Gefüge der Stadt und ihre entstehungszeitliche Ausdehnung, sondern auch das Aussehen einzelner profaner wie sakraler Gebäude. Der kolorierte Kupferstich von Johann Christian Leopold (Abb. 5) beinhaltet sogar eine Legende mittels welcher eine eindeutige Zuordnung der wichtigsten Architekturen der Stadt ermöglicht wird. Irrtum quasi ausgeschlossen! Folglich sind die Bilder heute seltene kulturhistorische Zeugnisse und bilden eine wichtige Grundlage für die Erforschung der historischen Altstadt von Steyr.

Abb. 6: Graphitstiftzeichnung von Maria Anna Katharina Gürtler, 1786.

Abschließend bleibt noch die Frage zu beantworten, wie die Ansichten entstanden sind. Während die in Steyr lebende Maria Anna Katharina Gürtler ihre Zeichnung nach einem Entwurf ihres Ehemannes Franz Xaver Gürtler anfertigte, entstand der Kupferstich von Johann Christian Leopold nach einer Skizze des deutschen Ansichtenzeichners Friedrich Bernhard Werner, welcher neben zahlreichen europäischen Städten auch Steyr bereist hatte. Die Lautensack-Radierung lässt wiederum den Schluss zu, er habe die Stadt mit eigenen Augen gesehen: Immerhin entstand das Werk in dem Jahr seiner Übersiedlung nach Wien und könnte somit auf seiner Durchreise von Nürnberg entstanden sein. Auch die Stadtvedute von 1548 muss vor Ort respektive nach detaillierten Skizzen produziert worden sein. Einerseits aufgrund der nicht vorhandenen Fehler, andererseits aufgrund der unglaublichen Detailgenauigkeit: Die vorhandene Präzession, die sich sowohl auf die Topografie als auch die zahlreichen, zeitlich begrenzten Bauprojekte, beziehen lässt, kann unmöglich rein auf Basis von Beschreibungen angefertigt worden sein. 

Spannend bleibt das Bild letztendlich auch aus einem anderen Grund: Noch wissen wir nicht, wer es gemalt hat. Vermutlich handelte es sich um einen süddeutschen Maler, dessen Werkstatt mit der Komposition beauftragt worden war. Signiert hat er seine bemerkenswerte Schöpfung jedenfalls nicht. Das hält uns aber nicht davon ab ihren Geheimnissen Schritt für Schritt auf die Spur zu gehen. In diesem Sinne: Stay tuned!

  • Sophie Morawitz ist ÖAW DOC-Stipendiatin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, DSHCS Fellow und schreibt ihre Dissertation über die mittelalterliche und frühneuzeitliche Architektur und Ausstattung der Steyrer Stadtpfarrkirche.